Eine goldene Zeit in einer anderen Welt

Ich möchte mich erinnern an unsere grosse Reise nach Mittel- und Südamerika. Denn ich habe gemerkt, dass die Bilder von damals verblassen und dagegen möchte ich etwas unternehmen. Wir fühlten uns frei auf dieser Reise, dieses Gefühl bleibt unvergessen. Es gab noch keine E-Mail! Was für ein Glück, dass wir das noch erleben durften, sage ich heute. In den grösseren Städten holten wir jeweils auf der Schweizer Botschaft unsere Post ab. Unsere Route hatten wir vorher grob geplant, daheim wussten sie, wo wir Post abholen würden.

Umgeben von goldenem Glanz

Da war dieses goldene Licht in einer Lagune in Mexiko. Wir gingen über einen sandigen Weg durch das Dorf hin zum Wasser. Es war ein belebter Teil des Ortes, Kochtöpfe schepperten, Kinder lachten und quengelten, Frauenstimmen riefen. Insekten – ich bin sicher, die Luft war erfüllt vom Gezirpe von Insekten. Der sandige Weg, all die abendlichen Geräusche und die Kokospalmen und Mangobäume – das waren wunderbare Eindrücke, doch sie wurden überstrahlt von der Schönheit des Sonnenuntergangs. Das Licht war golden und rosa in allen Schattierungen, vermischt mit orange. Es war nicht nur am Horizont, es war überall, rings um uns herum. Die Luft war getränkt von Farbe, die ganze Welt eingetaucht darin. Wir waren mittendrin. Es war, als ob wir diesen Glanz atmeten. Vorn am Wasser war ein Steg, wo wir uns hin setzten. Und dort konnten wir dieses Ereignis ziemlich lange geniessen, denn es ging nicht schnell vorbei und das machte alles so intensiv. Es war, als ob wir im Wasser schwimmen würden, nur waren es Licht und Wärme und Schönheit. Natürlich änderten sich die Farben dann doch, Violett kam dazu. Später irgendwann nahm die Intensität ab. Was kam dann? Ich glaub, es waren die Blautöne, zuerst hell, dann dunkler, dann Dunkelheit, das weiss ich nicht mehr so genau. Was ich aber noch weiss, ist, dass die Geräusche des täglichen Lebens immer noch da waren, als es schliesslich finster war – die Stimmen der Leute und das Geklapper aus den Küchen. Das Gezirpe der Insekten. Und das Gefühl des weichen Sandes unter unseren Füssen.

In der Oase

Viele Monate später und in einem anderen Land waren wir auch in einem Dorf, wo es Wege aus Sand hatte. Das war im Norden von Chile, nachdem wir von Bolivien her über die Salzseen von Uyuni gereist waren. Der Ort hiess San Pedro de Atacama. Die Erinnerung an das Gehen über diese sandigen Wege verbindet sich für mich mit einem Gefühl von grosser Entspanntheit, wohltuender Fremdheit und auch Geborgenheit. Ich fühlte mich dort sehr gut aufgehoben. Es war eine Oase und nach den Tagen in der Kargheit der Wüste ungemein wohltuend, dort anzukommen. Zur Erinnerung von Sand unter den Füssen kommt das Gefühl von Wärme. Da war ein Dorfplatz im Zentrum, ein Gasthof mit gepflastertem Innenhof, ein Baum in der Mitte, Sterne, klare Nächte, lange Tische voller Leute in fröhlicher Stimmung. Es gab gutes Essen, es war zauberhaft. Kann es sein, dass wir dort Safranrisotto gegessen haben? Könnte sein, dann der Koch, so hiess es, war ein Schweizer.

Eine kleine Banane und ein Krapfen

Was mir geblieben ist von dieser Reise, sind Momente, die mich auf besondere Art berührt haben. So die Begegnung mit einem kleinen Jungen in einem abgelegenen Dorf in Bolivien. Der Busfahrer machte dort einen Halt, alle Passagiere stiegen aus. Beim Ausgang des Busses hatte sich eine Traube von Kindern gebildet, sie fragten, ob wir etwas zu essen für sie hätten. Einige der Leute verteilten Biskuits, ich hatte auch welche und bot sie einem der Jungen an. Er aber erspähte eine kleine Banane, die ich auch noch bei mir hatte. Wie hat er sich darüber gefreut! Er hüpfte und jubelte "un platanotito, un platanotito!". "Eine kleine Banane", die erst noch an vielen Stellen braun war. Das Leben in diesem Dorf war mit Sicherheit hart und die Leute mussten mit sehr wenig auskommen. Einfache Häuser, karge Umgebung, das war mein kurzer Eindruck. Auch vorher und später wurden wir natürlich mit einfachen Verhältnissen, schwierigen Lebensumständen und auch Armut konfrontiert. Aber das Bild des Jungen, der über die Banane jubelte, steht irgendwie darüber. Hat andere, ähnliche Eindrücke oder auch Erkenntnisse wie aufgesogen. In sich konzentriert. Es kommt immer wieder vor, dass ich an diese kurze Begegnung zurückdenke, wenn ich das Gefühl habe, dass wir zu wenig realisieren, was wir haben. Materiell gesehen, meine ich.

In der gleichen Gegend, das war kurz vor den Salzseen von Uyuni, übernachteten wir in einem ähnlichen Dorf. Wir spazierten ein wenig herum und sahen, dass in einem der Häuser gebacken wurde. Ob das eine Bäckerei sei, fragten wir. Ja, ja, sagten die Frauen, verschwanden aber schnell im Haus und zeigten sich nicht mehr. Wir gingen weiter, wenig später holte uns ein Junge ein, der uns lächelnd einen gefüllten Brotteigkrapfen entgegen streckte. Es sei ein Geschenk, sagte er und verschwand so schnell wie er gekommen war. Wir waren beeindruckt von dieser Grosszügigkeit und Freundlichkeit. Der Krapfen schmeckte herrlich.

Kaktus, Rompope und schattige Patios

Viele meiner wichtigsten Erinnerungen beschränken sich auf einzelne Bilder. Zu Mexiko, wo unsere Reise begann, kommt mir in den Sinn: Das feste Holz, das nach dem Verrotten der Kakteen auf dem Wüstenboden der Baja California liegen bleibt – Röhren mit Löchern, dort wo früher die Dornen wuchsen. Das Skelett des Kaktus, sozusagen.

Gekochtes Kaktusfleisch auf dem Teller zum Znacht. "You know what this is?", fragte uns ein Amerikaner am selben Tisch. Nein, wir wussten es nicht. "Cactus!", wurden wir vergnügt informiert. Da staunen wir nicht schlecht, es schmeckte einfach nach Gemüse. Später haben wir die fleischigen Scheiben auch auf dem Markt gesehen.

Ein anderes Bild: Erdbeerglace an einem Holzstiel, an dem auch eine ganze Erdbeere aufgespiesst war. Noch heute habe ich Lust, ein solches Eis zu essen. Denn wir haben keins genommen. Am Anfang der Reise waren wir vorsichtig. So blieb dieses Verlangen ungestillt …

Das Wort "Rompope". Es hat mir so gefallen, dass ich längere Zeit immer wieder ein "Liquado de Rompope" bestellte – einen Milchshake mit Rompope eben, den ich ausserordentlich lecker fand. Bis ich dann herausfand, was es war: Eierlikör! Da hab ich schnell das Aroma gewechselt.

Stattliche Häuser mit Patios, diese Erinnerung ist fast nur ein traumhaftes Gefühl. Draussen Hitze und hartes Licht, drinnen der schattige Laubengang, der im Viereck um den Garten im Innenhof führt. Dort ist es schön, es hat allerlei Pflanzen, vielleicht einen Rosmarin, gross wie ein Baum. Andere Bäume, Blumen, Schmetterlinge. Kühle Fliesen am Boden. Überall geschlossene Türen, die in die vielen Zimmer führen. Die Farben: Ochsenblut und Dunkelweiss, dann noch Dunkelgrün, manchmal Blau. Aber ob's wirklich so war…? Dann irgendwo eine grosse Küche. Es ist geheimnisvoll. Und schön, daran zu denken.

Wir haben viele historische Stätten besucht. Ich kann mich kaum daran erinnern! Bleibend war der Eindruck für mich nur, wenn ich die Natur, die uns dort umgab, besonders spürte. Zum Beispiel in Palenque. Da war der Urwald dicht an den Pyramiden und die Luft erfüllt von einem Zirpen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Es war laut, fast ohrenbetäubend laut und ohne Pause. Jemand sagte, das seien Schlangen. Am Eingang zum Gelände stand eine Gruppe von Leuten in einfachsten Kleidungsstücke aus weissem Stoff. Ihre Gesichter waren von einer noch nie gesehenen Fremdheit. Als wir den Ort verliessen, waren sie verschwunden. Ich war fasziniert. Begegnungen mit solch grosser Fremdheit empfand ich immer als Glück und Bereicherung. Passiert ist es aber selten! Was viel öfter vorkam, war, dass ich mich in fremder Umgebung nach einer Weile zu Hause fühlte. Eine wunderbare Erfahrung, sich derart zu öffnen, wach zu sein und Neues aufzunehmen.

Ein nie gehörter Lärm

Wir sind meist mit dem Bus gereist, oft in der Nacht. Einmal erreichten wir unser Ziel noch vor dem Morgengrauen. Wir stiegen aus und hörten einen lärmigen Ton, eine Art Dröhnen. Schlaftrunken gingen wir auf die Busstation zu, die in der dunklen Nacht hell erleuchtet war. Es wurde lauter. War das Maschinenlärm? Wir betraten den Warteraum und merkten, dass der Ton von dort kam – es waren fliegende Ameisen! Ein ganzer Schwarm war in den Raum eingefallen, es waren Tausende! Sie waren etwa so gross wie ein Hornissen. Angestellte wischten sie mit Besen zu Haufen zusammen. Man musste sie von den Stuhlflächen wischen, um absitzen zu können. Sie verbrieten auf den Neonröhren, sie waren überall. Ein paar Leute sammelten sie in Plastiksäcken. Vielleicht, um damit ein Gericht zuzubereiten? Wir trauten uns nicht zu fragen, haben es aber angenommen. Andere Leute warteten völlig unbeteiligt auf ihren Bus, als wäre es die normalste Sache der Welt, zu nachtdunkler Stunde inmitten Tausender surrender Ameisen zu sitzen. Unbewegte, mexikanische Gesichter. Es herrschte nicht die geringste Aufregung. Etwa nach einer Stunde war der Spuk vorbei. Der Tag brach an, wir fühlten uns vollkommen benommen von dieser Szene.

Wir suchten uns dann ein Hotel. Ich erinnere mich an ein geräumiges Zimmer mit hoher Decke in einem ehemals herrschaftlichen Haus. Nachdem wir es bezogen hatten, schlenderten wir durch die Strassen, es war noch früh am Morgen und kühl. Wir setzten uns auf eine Parkbank und erholten uns von der langen Reise durch die Nacht und unserer skurrilen Ankunft an diesem Ort. Das war in Oaxaca.

Am Meer sein – Tag und Nacht

Bevor wir Mexiko verliessen, verbrachten wir eine Zeit am Meer. In einem kleineren Ort in Yucatan konnten wir direkt am Strand für wenig Geld unsere Hängematten aufhängen. Die Zeiten am Meer gehören zu den Schönsten der Reise. Unser Unterstand stand auf dem hinteren Teil des Sandstrandes, nur ein einfacher Lattenzaun mit einem Tor trennte uns vom vorderen weiten, flachen Teil. Hier erlebten wir die Karibik mit türkisfarbenem Wasser und weissem Sand. Wir waren bereits seit Längerem unterwegs, der Alltag von früher lag weit hinter uns. Wir liessen uns treiben. Baden, in der Hängematte sein, am Tag, in der Nacht, über Sand gehen, das Meer schauen, riechen und spüren, Kokosmilch mit einem Strohhalm aus der grossen, grünen Nuss trinken. Im Ort spazieren, einkaufen, essen. Tagebuch schreiben. Zeit haben - auf dieser Reise durften wir das erleben.

Auch zwei Mexikaner hatten ihre Hängematten dort aufgehängt. Der eine, weil er bankrottgegangen war. Dieser Mann blieb immer für sich. Auch der andere hatte finanzielle Probleme, war aber ganz vergnügt. Er zeigte uns, wie man ein Ceviche zubereitet, ein Gericht aus rohem Fisch. Zusammen gingen wir auf den Markt, wo wir die Zutaten einkauften.

Berührt von Farben

Unsere Reise führte uns dann weiter nach Guatemala. Da waren wir unheimlich gern. Am klarsten erinnere ich mich an unseren Aufenthalt in Todos Santos. In diesem Dorf in den Bergen waren wir vielleicht zwei Wochen. Während einer Woche haben wir eine Sprachschule besucht, die von Leuten aus dem Dorf betrieben wurde. Gewohnt haben wir bei einer Familie. Das Haus hatte zwei Räume, wir schliefen im kleinen Nebenraum . Es war ein gutes Haus, der Boden aus festgestampfter Erde, das Dach aus Wellblech. Zur Einrichtung im Hauptraum gehörten der Holzherd und eine grosse Truhe zur Aufbewahrung verschiedener Dinge, von Kleidern zum Beispiel. Felipe, die Mutter, wob ihre Stoffe alle selbst. Sie, ihr Mann und die beiden kleinen Söhne trugen die traditionelle Tracht, so wie alle im Dorf. Diese Tracht war sehr schön anzuschauen, besonders jene für die Männer und Jungen: rote Hosen mit feinen weissen und schwarzen Streifen, weisse Hemden mit feinen blauen und roten Streifen und einem prächtigen, rosaroten, feingemusterten Kragen. Dazu ein Strohhut. Es gab auch einen Fernseher im Haus. Der Strom kam von einem Generator. Ich kam dazu, als eine Werbung für ein Putzmittel lief: eine Frau stand in einer riesigen Küche, die nur so glänzte und funkelte und wischte ein wenig auf der Kombination herum. Felipe hat mich mit einem schwer zu deutenden Blick angesehen - wie weit entfernt ihr Leben doch war von einer derartigen Welt. Zum Glück wurde der Fernseher dann nicht mehr angestellt. Später sass ich neben ihr beim Holzherd, als sie Tortillas machte. Dazu bewegte sie runde Teigstücke geschickt von einer Hand in die andere hin und her, bis sie flach wurden wie kleine Omeletten.

Ich bin jeden Tag vor dem Haus gesessen und habe an einem Band gewoben: Grün, Blau, Rosa waren die Farben des Garns. Felipe hat die Arbeit für mich vorbereitet und mir ihr Webschiffchen geliehen. Es war aus blank poliertem Holz und ziemlich schwer. Zum Weben wird das eine Ende des Zettels irgendwo am Haus befestigt, das andere nimmt man um seine Hüften, um die Fäden zu spannen und setzt sich so hin. Es war eine schwierige Arbeit, aber jedenfalls hatte mein Band am Schluss eine ansehnliche Länge. Nach der Sprachschule mussten wir Felipe und Ihre Familie verlassen, aber wir sind noch in Todos Santos geblieben. Wir haben ein Zimmer gemietet weiter oben im Dorf. Dieses Zimmer war perfekt. Schlicht eingerichtet mit zwei Betten und luftigen Duvets, blitzsauber, weiss getüncht. Vor dem Eingang eine Terrasse mit Aussicht. Um aus dem Zimmer hinauszusehen, musste man die einfache Holztür öffnen, es hatte kein Fenster. Die Luft war kühl und frisch. Die Vermieterin war eine freundliche und umtriebige Frau, bei der uns sehr wohl war. Wann immer ich dieser Einfachheit begegnet bin, hat sie mich bezaubert.

Was ich noch mit Guatemala verbinde: der Geruch der Holzfeuer, der morgens in den Dörfern hing. Oft begann unser Tag damit, dass wir über staubige Strassen gingen und einen Ort zum Frühstücken suchten. In Chichicastenango sassen wir auf einer langen weissen Treppe vor der Kirche und zum Geruch der Holzfeuer mischte sich der Rauch von verbranntem Weihrauch. Hat jemand auf der Treppe ein Gefäss mit Weihrauch geschwenkt? Muss wohl so gewesen sein.

Dann sehe ich auch eine Fülle von Farben, wenn ich an die Märkte und besonders an die Frauen in ihren gewobenen Trachten denke. Viel Rot und Rosa, aber auch Schwarz, Weiss und ja, ein Dorf hatte eine Tracht mit viel Grün darin. Girlanden mit farbigen Wimpeln, vom Kirchturmspitz über den Dorfplatz gespannt, auch das ist ein schönes Bild. Dem sind wir oft begegnet, immer wieder war irgendwo ein Fest, ein Markt oder eine Prozession.

Vom bunten Guatemala führte uns unsere Reise dann weiter in andere Länder und immer wieder auch ans Meer. Wir sahen noch viele schöne Sonnenuntergänge, die Farben und das Licht waren allerdings nie mehr derart golden wie damals in der Lagune in Mexiko. Umso kostbarer ist die Erinnerung daran.

Erinnerungstext von Katharina Boss Brawand